Die Realität in Bonn sieht anders aus: Häufig fühlt man sich wie ein Kind, das auf die Toilette möchte und dann vor einem Bidet steht: Was soll ich nun tun? Wie geht es jetzt weiter? Stress, Unsicherheit, Scham.
Häufig kommt dann die Empfehlung, man solle doch erstmal einen Fahrradführerschein machen. Die meisten Radelnden haben allerdings sogar einen Autoführerschein. Aber gegen das Ausgeliefertsein auf der Straße hilft er nicht. Auch nicht gegen das Gefühl nur Verkehrsteilnehmer:in zweiter Klasse zu sein.
Routinierte Vielradelnde haben sich über die Jahre eine unterbewusste Bedienungsanleitung für Ihr Revier erstellt. Individuelle Wegenetze aus Gassen und Schleichwegen, gespickt mit detaillierter Kenntnis der Benutzungspflichten von Radwegen, StVO-Novellierungen und Navigations-Apps. Dazu eine dickes Fell gegen Drängeln, Hupen und enges Überholen.
Für ein Radwegenetz ohne Bedienungsanleitung
Wollen wir mehr Menschen aufs Rad bringen, sollten wir diese individuellen Strategien nicht zum Ideal erklären. Mehr Bedienungsanleitungen für Bonn sind nicht die Lösung. Fahrrad-Neulinge müssen sich auf Anhieb zurechtfinden und sicher fühlen. Zugezogene sollen sich an ihrem ersten Tag und ohne intensive Analyse des Stadtplans mit dem Rad auf den Weg zur Arbeit machen können. In echten Fahrradstädten ist das teilweise seit Jahrzehnten möglich. Und man muss dabei nicht einmal den geschützen Radweg verlassen. Man fühlt sich willkommen. So etwas stünde der weltoffenen Stadt, die Bonn so gerne sein möchte, gut zu Gesicht: Erlebtes Vertrauen, Entspannung, Selbstwirksamkeit.
„Radwege müssen gebaute Einladungen sein“ bringt es Thiemo Graf vom Institut für innovative Städte auf den Punkt. Radwege sollten eine eigene Marke sein und auch nach Radwegen aussehen. Nicht nur nach Autostraßen mit angeflanschten Wegweisern, aufgepfropften Schildern und nachträglich hingemalten Fahrradpiktogrammen.
Das bedeutet auch, dass ein gutes Fahrradwegenetz nicht nur aus verwinkelten Nebenstraßen besteht, sondern klare und direkte Verbindungen beinhaltet. Wenn man zum Bertha-von-Suttner-Platz möchte, hat man die bekannten Routen über Kennedybrücke, Oxfordstraße oder B9 im Kopf. Warum sollte man sich also umständlich über Friedensplatz und Friedrichstraße durch die Fußgängerzone dorthin schmuggeln müssen?
Einfache Wege für intuitiv richtiges Verhalten sind bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST), dem wissenschaftlichen Forschungsinstitut des Bundesverkehrsministeriums, durchaus ein wichtiges Thema. Aber die gewonnen Erkenntnisse werden noch zu selten umgesetzt. Im Bereich des Automobilverkehrs ist intuitive Verkehrsführung selbstverständlich: Am 8. November durfte eine Fahrraddemonstration für einen Radschnellweg entlang der A565 nicht über den „Tausenfüßler“ führen, da Autofahrende nicht mit einer Sperrung einer Autobahn rechnen und daher Auffahrunfälle befürchtet wurden. Es entspricht im Auto also nicht unserer Intuition, dass ein Weg plötzlich gesperrt ist. Bei einem Radweg ist es allerdings vollkommen normal, dass dieser plötzlich auf die Fahrbahn gelenkt wird oder in einer Baustelle endet: „Fahrradfahrer absteigen“ heißt es dann.
Auf der Kaiserstraße in der Südstadt hat sich die Situation für den Radverkehr in den letzten Jahren gebessert, aber der nun bestehende Linksverkehr ist ganz sicher nicht intuitiv. Und warum führt ein wenige Meter langer neuer Radweg auf dem Jan-Loh-Platz in der Altstadt mitten durch die Außengastronomie? Rein intuitiv würden wir uns in einem Biergarten wohl eher zu Fuß bewegen. Dass der Stammtisch nebenan wegen vermeintlicher „Rüpelradler“ die Nase rümpft, ist quasi vorprogrammiert.
Geschützte Radwege auf den direktesten Verbindungen sind wichtig, um ein erfolgreiches Radwegenetz zu etablieren. Falls nötig, auch mittels Umverteilung des Straßenraums. Gleichzeitig wirkt der Radverkehr dann aber auch auf den benachbarten Autoverkehr als Einladung zum Mitradeln. Wenn der lustige Opa mit dem Hollandrad auf dem komfortablen, geschützten und rot markierten Radweg den im Stau stehenden Sportwagenfahrer an der nächsten Ampel wieder eingeholt hat, überlegt sich letzterer vielleicht, ob er beim nächsten Mal nicht direkt sein E-Mountainbike auch mal für den Weg zur Arbeit nutzt. Der lustige Opa wird auf jeden Fall wieder das Rad wählen. Ein zusammenhängendes Radwegenetz überzeugt auch durch die positiven Gefühle,die es bei seinen Nutzer:innen auslöst.
Ein paar als „Fahrradstraße“ deklarierte Nebenstraßen sind kein attraktives Radwegenetz. Eine komplizierte Bedienungsanleitung erzeugt keine positiven Gefühle. Eine gute Fahrradstadt lässt sich nicht nur in Verkehrszählungen messen – sie lässt sich auch spüren: Am Gefühl des Willkommenseins auf dem Rad.
4 Kommentare
Danke für diesen tollen Text. Spricht mir aus dem Herzen!
Super geschrieben. Ich freue mich auf einen Wandel in Bonn!
Klasse! Genau so ist es. Der bislang nur als Feigenblatt zu bezeichnende Flickenteppich ist ist jedenfalls kein Radwegenetz und wird keinen Freizeitradfahrer zum Alltagsradler machen.
Toller Text, trauriger Sachverhalt. Fast noch trauriger ist, dass es offenbar niemanden in Politik und Verwaltung interessiert.