Auch wir vom Radentscheid sind an dieser Diskussion nicht unbeteiligt. Vielmehr setzen wir uns dafür ein, dass es auf der wichtigen Verbindung zwischen Rhein und Hauptbahnhof einen gut zu nutzenden Fahrradweg gibt. Folgt man dem Ratsbeschluss des Radentscheid aus dem Februar 2021, müsste hier ein 2-Richtungs-Radweg gebaut werden.
Und nun der Vorschlag und Beschluss von Bündnis 90/Die Grünen zusammen mit SPD und den Linken: Im Straßenzug Rathausgasse und Am Hof soll eine durchgehende Verkehrsfläche geschaffen werden. Sie soll keine Kanten oder Bordsteine haben, sondern zusammenhängend wie eine Fußgängerzone sein. Auf dieser Fläche begegnen sich dann mehr oder weniger ungeregelt Fußgänger*innen, Radfahrende, Busse, Pkws und Lieferverkehr. Der Gedanke dabei: Der Fußverkehr hat Vorrang, alle anderen müssen Rücksicht nehmen. Wie bitte soll das gehen?
Nun sind die Grünen keine Phantasten, die solche Ideen als dem Nichts entwickeln. Vielmehr gibt es vielerorts schon ähnliche Konzepte, die umgesetzt sind. Bekannt für ihre „Begegnungszonen“ ist die Stadt Wien. Wir haben uns die Mariahilfer Straße und Neubaugasse angesehen, um zu sehen, was wir davon für Bonn lernen können.
Zum Beispiel: Wien
Die Wiener Neubaugasse hat in etwa die Dimensionen des Bonner Straßenzugs vor der Uni. Auch durch die Neubaugasse fahren bis zu ca. 30 Busse je Stunde. Das ist weniger als bei uns auf der Rathausgasse, dafür fahren die Busse dort in beide Richtungen. Radfahrende nutzen die Straße in beide Richtungen, der motorisierte Individualverkehr nur in eine Richtung. Allerdings ist sie – anders als unser Vergleich in Bonn – keine Durchgangsstraße, so dass hier nur ein moderater Zielverkehr unterwegs ist.
Die Straße ist als Begegnungsraum mit Tempo 20 beschildert, Kanten und Bordsteine gibt es nur zum barrierefreien Einstieg an den Bushaltstellen. Und genau an dieser Stelle wurde mir klar, dass der Begriff „Shared Space“ nicht wirklich definiert, wie der Straßenraum gestaltet wird. Eine durchdachte Gestaltung kann die Nutzung für alle vereinfachen. Zu sehen ist das in der Neubaugasse, denn sie ist klar gegliedert. Das geschieht zum einen durch unterschiedliche Oberflächen, aber insbesondere durch die Anordnung der Pflanzflächen, Gastgärten und Bänke. So hat die Straße eine 6 m breite Fahrspur und beidseitig Multifunktions- und Gehflächen – mal mehr, mal weniger breit, je nachdem, was der Platz zulässt. Bänke stehen mit dem Rücken zur Fahrbahn. Grünflächen grenzen den Mittelraum vom Gehweg ab. Die Bilder im Slider oben zeigen verschiedene Ansichten der bisher auf 800 m umgestalteten Straße.
An dem Samstagvormittag im Februar, an dem ich dort unterwegs war, war sicher nicht das Maximum an Fußgänger*innen und Radfahrer*innen unterwegs. Aber ich konnte beobachten, wie agil der Raum genutzt wurde. Busse, Autos und Radfahrende nutzen klar den mittleren Bereich. Die Fußgänger*innen bewegen sich vorwiegend im Seitenraum, nutzen aber auch sehr selbstverständlich den Mittelraum, wenn es zu eng ist oder man die Straßenseite wechseln will. Busse und Autos fahren langsam. In Wien hat man bereits gelernt, mit den Begegnungsflächen umzugehen.
Eine Frage der Gestaltung
Die Neubaugasse mündet auf die Mariahilfer Straße. Dort kann man sehen, wie Shared Space auf einer doppelt so breiten Fläche aussehen kann. Zwischen den Gebäuden liegen 25 bis 30 m Straßenraum, der im Gegensatz zur später umgebauten Neubaugasse komplett unstrukturiert ist. Auf beiden Seiten stehen Bäume (übrigens eine der spürbaren Mikroklima-Verbesserungen gegenüber dem vorherigen Zustand), die aber in der Mitte immer noch viel Platz lassen. Dieser Raum wird von allen Verkehrsformen genutzt. Da beidseitig großflächiger Einzelhandel ist, queren die Fußgänger*innen an allen Stellen und in alle Richtungen.
Auf der Mariahilfer Straße wechseln sich Abschnitte mit Shared Space mit reinen Fußgängerzonen (Fahrräder frei) ab. Auf den Fotos unten habe ich lediglich die Begegnungszonen fotografiert. Teilweise ist Autoverkehr nur in eine Richtung zugelassen. Die Autos fahren in den Begegnungsräumen sehr langsam. Auf der großen Breite ist es aber unklar, wo sie fahren werden. Nach meinen Beobachtungen werden alle Flächen auch von Autos genutzt. Oftmals sieht man Nicht-Einheimische, die die Verkehrsführung nicht verstehen und auch in eine Fußgängerzone einfahren. Die Buslinie 13A, die ursprünglich durch die Mariahilfer Straße gefahren ist, hat man zwischenzeitlich verlegt.
Viel problematischer als der Autoverkehr sind aber die Radfahrenden und – Wien-typisch – die Menschen, die auf den unzähligen E-Rollern unterwegs sind. Sie fahren überall und sind gezwungen, sich zwischen den Fußgänger*innen durchzuschlängeln. Ungünstigerweise hat die Straße in Richtung Innenstadt ein nicht unerhebliches Gefälle, so dass die Radfahrenden durchaus zügig unterwegs sind. Gleichzeitig ist die Straße eine der Haupteinkaufsmeilen und sehr gut besucht (auch im Februar). Konflikte sind vorprogrammiert, zu beobachten und auch schon vielfach beklagt. Hinter dieses Konzept des Shared Space mache ich als Radfahrer ein großes Fragezeichen. Mich hat es nicht überzeugt. Man erzeugt Unsicherheit und hofft dadurch gleichzeitig Rücksichtnahme zu erreichen. In dieser Straße würde ich kein kleines Kind sich frei bewegen lassen. Ich fände es viel sinnvoller, dem Rad- und Rollerverkehr einen deutlichen Radweg zu markieren und damit den Fußgänger*innen-Bereich zu entlasten. Wir reden hier immerhin von fast 2 km Länge, die Radfahrende nur über enge Gassen und viele Kreuzungen umfahren können. Die Bedeutung der Route für den Radverkehr ist hoch.
Auf der Rückfahrt im Zug habe ich mich durch verschiedene Webseiten geklickt, um Fakten und Meinungen zu dieser Straßengestaltung zu finden. Was dort im 6. und 7. Wiener Bezirk umgestaltet wird, ist Teil einer gesamtstädtischen Strategie. Wie viele andere Großstädte erstickt Wien im Autoverkehr und steuert bewusst um. Nach anfänglichen Widerständen finden das jetzt aber die meisten Menschen gut. Dazu beigetragen haben sicher auch die Bürgerbeteiligungen und Informationen. Die Lebensqualität in den Vierteln hat sich wahrnehmbar erhöht. Insbesondere wird geschätzt, dass Fußgänger*innen und Radfahrer*innen mehr Platz haben. Es gibt deutlich mehr Bäume, weniger Lärm, schöne Außengastronomie und auch Mehrumsatz für die Geschäfte. Für den Einzelhandel in der Mariahilfer Straße habe ich keine abschließende Beurteilung gefunden. Dort wird von Umsatzrückgängen berichtet, die aber auch mit Corona, dem Wandel zum Internetkauf und vor allem mit den U-Bahn-Baustellen auf der Strecke zusammenhängen.
Was Bonn von Wien lernen kann
Eine Parallele zwischen Wien und Bonn ist, dass es in beiden Fällen Die Grünen sind, die im Shared Space bzw. in der Begegnungszone die zukunftsweisende Lösung für einen menschenfreundlichen Verkehr sehen. Das Konzept, die Flächen neu zu verteilen, dem Auto Raum zu nehmen und ihn den Menschen zu geben, unterstützen wir voll. Dem Verkehr aber lediglich einen unstrukturierten Raum zu bauen, erzeugt eine anstrengende und konfliktreiche Situation. Wir glauben nicht daran, dass bei den gegebenen Bedingungen vor der Bonner Uni ein guter Shared Space möglich ist. Dafür verkehren dort auch zukünftig zu viele Busse, Lieferverkehre, Pkws und Fahrräder. Für den Radverkehr, und hier insbesondere für junge oder ungeübte Fahrer*innen, ist die Planung gemäß der Radentscheidstandards – ein 2-Richtungs-Radweg, beidseitig mindestens 2,5 m Fußwege und eine Fahrspur für die Busse – die beste Lösung, um mehr Sicherheit zu erreichen.
Wer sich zu den Mobilitätskonzepten in Wien informieren will, dem empfehle ich die Seiten von WienSchauen, Geht-doch.Wien und Platz für Wien.
geschrieben von Steffen
Ein Kommentar
Shared space funktioniert leider nur bei sehr geringen Verkehrszahlen, in Einkaufsstraßen eher nicht und es kommt zu zu vielen Konflikten. Negativbeispiel ist der Nicht-Sahred Space, der aber von den Fußgängern so genutzt wird Schadowstraße in Düsseldorf. Spart euch das und vermeidet Shared space ab Verkehrszahlen größer 100/Stunde